Erzählungen aus dem nahen Osten by Scholem Alejchem

Erzählungen aus dem nahen Osten by Scholem Alejchem

Autor:Scholem Alejchem [Scholem Alejchem]
Die sprache: deu
Format: epub
ISBN: 9783956767623
Herausgeber: Otbebookpublishing
veröffentlicht: 2015-08-02T16:00:00+00:00


Die Tintenflut.

»Was bin ich doch für ein komischer Kauz! Ich glaubte, sie würden mich aufhängen, weil ich schlechte Limonade verkauft habe. Kein Gedanke! Ich habe mich umsonst geängstigt.

»Jente verkauft ja auch Schmalz anstatt Gänsefett! Der Fleischer Gedalje hat die Bevölkerung das ganze Jahr mit treifnem Fleisch gefüttert und es ist ihm auch nichts geschehen,« sagte Pesche meiner Mutter.

Eine seltsame Frau ist meine Mutter: wegen jeder Kleinigkeit macht sie sich Sorgen. Bruder Elia ist in dieser Hinsicht ganz anders. Er hat sich über diesen Unfall keine Gedanken gemacht. Hatte er doch ein Buch, das er fast auswendig kannte, und in dem noch eine Menge Rezepte standen. Elia beschloß nun, Tinte zu fabrizieren.

»Tinte«, sagte Elia, »ist ein gutes Geschäft, Tinte ist jetzt ein gangbarer Artikel. Die Leute sind klug geworden, jeder Mensch lernt schreiben. Der Schönschreibelehrer Itel sagte, er gebe ein ganzes Vermögen für Tinte aus.

Beim Lehrer Itel lernen fünfundsiebzig Mädchen schreiben; Knaben gehen nicht zu ihm zum Unterricht; er schlägt sie zu viel mit dem Lineal auf die Hände; Mädchen dürfen nicht geschlagen, nicht einmal mit dem Lineal berührt werden. Ich bedaure, daß ich nicht als Mädchen geboren bin, dann brauchte ich nicht ›Kadisch‹ zu sagen ... Es ist furchtbar langweilig, jeden Tag dasselbe Gebet herunterzuleiern. Ich brauchte dann auch nicht einen halben Tag in der ›Talmud-Thora‹ zu sitzen, wo ich wenig lerne, aber um so mehr Genickstöße bekommen, und zwar nur selten vom Lehrer, häufiger von seiner Frau ... Was geht es sie an, daß ich mich um die Katze kümmere! Wenn ihr das Kätzchen sehen würdet! Ein bedauernswertes Geschöpf, ewig verhungert, es miaut ganz leise und weint wie ein Mensch; das Herz tut einem weh, wenn man das Tierchen ansieht. Was haben sie für einen Schaden von der Katze!? Wer sobald sie ins Zimmer kommt, jagen sie sie fort, so daß das arme Tier ganz verängstigt davonläuft. Nicht eine Spur Mitleid haben die Menschen! Aber ich kehre zu der Tinte meines Bruders Elia zurück.

Elia meint, die Welt sei jetzt eine ganz andere. Früher kaufte man Tintennüsse, kochte sie lange, fügte Vitriol hinzu und etwas Zucker zum Glanz ... Das war eine recht umständliche Sache mit der Tinte. Jetzt ist das alles nicht mehr nötig. Man kauft in der Apotheke einfach ein Pulver, eine Flasche Glyzerin, vermischt es mit Wasser, läßt das Ganze auf dem Feuer kochen, – und die Tinte ist fertig.

Elia lief in die Apotheke, kaufte einen ganzen Sack Pulver, eine Riesenflasche mit Glyzerin, dann schloß er sich in Mutters Stübchen ein und arbeitete, – wie immer ganz im geheimen. Wenn er einen Becher brauchte, rief er die Mutter herein und flüsterte ihr zu: »Mama, einen Becher ...« Das Pulver und das Glyzerin mischte er in einem großen Topf, den man zu diesem Zweck besorgt hatte und stellte ihn in den Ofen, nachdem er die Tür vorher abgeriegelt hatte. Die Mutter blickte während der ganzen Zeit auf den Ofen, da sie anscheinend fürchtete, daß er platzen könnte. Dann wurde das Faß, das früher zu Limonade gedient hatte, ins



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